Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Blogparade 2019 "FAIR statt fies". BloggerInnen der deutschsprachigen Hundeszene, denen ein fairer, freundlicher und gewaltfreier Umgang mit Hunden am Herzen liegt, veröffentlichen vom 10. Oktober bis zum 15. November 2019 ihre Blogartikel rund um Mensch und Hund. Ich freue mich sehr, in diesem Jahr zum ersten Mal, Teil dieser Initiative zu sein!
Der Neurobiologe und der Mitbegründer der Akademie für Potenzialentfaltung, Gerald Hüther sagt:
[…] Jedes Kind kommt als Subjekt zur Welt. Die ersten Beziehungen sind Subjekt-Subjekt Beziehungen zwischen den engsten Bezugspersonen. Da benutzt keiner den anderen für seine Zwecke. Wenn das Kind eine Vorstellung von sich selbst entwickelt, so mit 3-4 Jahren, beginnen Eltern, ihre Kinder zu erziehen. Sie meinen das gut, aber wie sie es machen, führt dazu, dass das Kind zum Objekt elterlicher Erwartungen, Bewertungen, Vorstellungen, Ratschläge und Maßnahmen wird […]
(Auszug aus dem Interview auf www.maas-mag.de/themen/es-geht-nur-ohne-hierarchie )
Wer kennt sie nicht, diese unbändige Vorfreude, wenn Familienzuwachs in Form eines ein kleinen, flauschigen Fellknäuels auf vier tapsigen Pfoten bevorsteht. Natürlich will man das Beste für den Zwerg. Vieles muss gelernt werden, schließlich soll das Hundekind einmal sicher durchs Leben gehen und uns überall hin begleiten. Gut erzogen soll es sein, das versteht sich von selbst. Es soll sich mit Artgenossen verschiedenster Rassen und unterschiedlichsten Alters gut verstehen. Selbstverständlich soll es sich in unserer Menschenwelt zurecht finden, ganz besonders soll es Kinder mögen... Spüren Sie es? Diesen Druck? Diese Erwartungshaltung? Dieses Pläne schmieden und Auflisten, was man nicht alles erledigen muss, dass aus einem Welpen ein gesellschaftskompatibler Hund wird? Um den Druck noch ein wenig zu erhöhen – man hat nur bis zur 16. Lebenswoche Zeit!!! In diesem mysteriösen Zeitraum nämlich, sollten Welpen alles Mögliche an unterschiedlichen Erfahrungen machen, danach würden sie damit nicht oder nur schwer zurechtkommen!
Ist das tatsächlich so? Endet Lernen wirklich nach Lebenswoche 16? Ich weiß, das ist provokant. Aber manchmal hilft Provokation, um Druck rauszunehmen, um wieder ins (Nach-)Denken zu kommen, um wieder auf unser Gefühl zu hören, was tatsächlich für das Zusammenleben mit einem Lebewesen ausschlaggebend ist. Hunde sind keine Aliens! Schon gar nicht sind sie Konditionierungsmaschinen, die nur mit guter Dressur in unserer Welt zurecht kommen. Auch streben sie nicht danach, mit ihren Menschen Machtkämpfe auszufechten. Sie fühlen wie wir Menschen, sie sind empathisch und höchst intelligent, ihre Sozialkompetenz ist geradezu erstaunlich, ihre Emotionen können mit unseren verglichen werden und sie verstehen sogar unsere Sprache!
Angenommen, es ginge viel einfacher!
Angenommen, es gibt nicht eine Todo-Liste, die abgearbeitet werden muss, sondern eine Reihe von Dingen, die man einfach weglassen kann! Ja, einfach so. Angenommen es wäre „ausreichend“, mit dem neuen Familienmitglied schlichtweg zu leben. Es ankommen zu lassen, es mit Liebe und Zuwendung zu überschütten, ihm Zeit zu geben, herauszufinden, welche Persönlichkeit in dem entzückenden Wesen steckt. Welpen verlieren mit dem Umzug in ihr neues Zuhause auf einen Schlag alles, was ihnen bisher Sicherheit und Geborgenheit gegeben hat. Angenommen, die einzige Aufgabe des Menschen bestünde darin, vertrauenswürdig und verlässlich zu werden und die einzige Aufgabe des Welpen wäre es, dieses Angebot anzunehmen!
Das Thema dieses Beitrages ist nicht zufällig gewählt. Im Sommer letzten Jahres ist bei uns ein zweiter Lagotto eingezogen. Er war bereits 16(!!) Wochen, unser erster Lagotto bereits 6 Jahre und wirklich not amused! Meine Einstellung zum Leben mit Hund war zu diesem Zeitpunkt bereits glasklar, ein großes Stück weit durch meine Ausbildungen, einerseits bei Ulli Reichmann in Wien, andererseits durch die Trainerausbildung bei NF footstep in der Schweiz. Ich hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie dieser neue Lebensabschnitt gemeistert oder besser - gelebt werden sollte.
Natürlich hält das Leben auch immer wieder besondere Herausforderungen bereit, Zweifel und Unsicherheit versuchen sich breit zu machen.
Was tatsächlich sehr geholfen hat, war, zu reflektieren, wie ich denn meine beiden Söhne (inzwischen sehr liebenswerte und höchst sympathische, junge Männer) großgezogen habe. Wir haben gelebt und nicht das Leben trainiert! Gelernt haben sie dabei alles, was empathische, sozial kompetente, geerdete und selbstsichere Menschen eben brauchen. Die Zutaten waren Liebe, Geduld, Empathie und Verständnis, Vertrauen und Sicherheit. Genau diesen Weg wollte ich für den kleinen Gepetto gehen. Ich wollte für ihn ein Fundament bauen, eine unerschütterliche Basis, aus der er selbst schöpfen konnte.
Und so hat denn unser Weg begonnen. In erster Linie galt es herauszufinden, was Gepettos Bedürfnisse waren:
Bewegte er sich gern von zuhause weg oder fühlte er sich sicherer, einfach in der Einfahrt zu sitzen und das Treiben auf der Straße zu beobachten und die Gerüche einzusaugen?
Wollte er Kontakt mit Artgenossen oder fühlte er sich wohler, wenn er fremde Hunde aus genügend Distanz wahrnehmen konnte?
Wollte er Kontakt zu fremden Menschen oder brauchte er erst Zeit, um sich annähern zu können?
War er mutig und unternehmungslustig oder brauchte er meine Unterstützung oder half es ihm, sich an Freddo zu orientieren?
All diese Fragen hatten eines gemeinsam:
Das Leben in angemessenen, persönlichkeitsgerechten (dieser Begriff stammt vom Schweizer Biologen und Verhaltensforscher Dr. Immanuel Birmelin) Schritten zu erkunden,
sich mit Gewohnheiten und Herausforderungen vertraut zu machen, aber sich dabei niemals allein gelassen zu fühlen,
GUTE(!!!) Erfahrungen zu machen und so Schritt für Schritt zu lernen.
Ausgangspunkt dafür war und ist noch immer unser Alltag, unser ganz normales Leben. Dass es dabei immer wieder Phasen gibt, die wirklich in die Kategorie „anstrengend“ und „nervenaufreibend“ fallen, ist ganz normal und gehört zu der Entwicklung eines Lebewesens dazu. Grad aktuell treffen mich die Auswüchse des hormonellen Junghundechaos mit voller Wucht. Aber auch hier gibt es einen Weg, einen sehr oft unterschätzten und der heißt Humor!!! (Zugegeben, manchmal ist er schwarz...)
Ich bin davon zutiefst überzeugt, dass die eingangs zitierte Aussage von Gerald Hüther auf Zusammenleben mit unseren Hunden zutrifft. Hunde sind so vielfältig und individuell in ihren Persönlichkeiten wie wir Menschen es auch sind. Sie beschenken uns mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten und nehmen uns auf eine wunderbare Reise mit, wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen.
Übrigens - ALL DAS trifft auch auf Hunde aus dem Tierschutz zu! Genau wie die Welpen vom Züchter kommen sie in ihr neues Zuhause und brauchen Zeit und Ruhe, um in ihrem neuen Leben, ihrer neuen Familie, ihrem neuen Alltag anzukommen. Gerade sie brauchen unser Verständnis, unsere Geduld und unsere Empathie, um zu lebensfrohen, selbstsicheren Persönlichkeiten zu werden.
Machen wir diese wunderbaren Wesen nicht zu Objekten unserer Vorstellungen, Erwartungen, Bewertungen oder Ziele! Gestehen wir unseren Hunden Freidenkertum zu, begleiten wir sie auf dem Weg zu eigenständig denkenden Lebewesen! Versuchen wir nicht sie zu verbiegen und zurecht zuschneidern, sondern geben wir ihnen die Unterstützung, die sie brauchen.
Genießen wir die Zeit mit ihnen! LEBEN wir mit ihnen!
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Petra (Sonntag, 10 November 2019 09:58)
Ach Sabine Du hast ja mal wieder so toll geschrieben, genau aber auch wirklich genauso ist es. Das sollten nicht nur Hundeeltern sondern auch Menschenkindereltern verinnerlichen.
Und dann Deine Fotos von diesen zwei süssen und hübschen Wollknäulen... supertoll.
Danke Dir dür diesen Beitrag.
Lg Petra
Sabine (Sonntag, 10 November 2019 14:47)
Dankeschön!!
Nicole (Dienstag, 12 November 2019 19:37)
Schöne Gedanken - und noch schöner zu wissen, dass du genau das lebst. weiter viel Freude auf deinem Weg
Sabine (Donnerstag, 14 November 2019 18:33)
Dankeschön, Nicole!!! Vor allem für euren Weg!! <3